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Oliver Schubbe

EMDR in der Therapie mit psychisch traumatisierten Jugendlichen (2000)

Der erste Teil des Beitrags fasst den Stand der Forschung zu EMDR zusammen. Der zweite Teil beschreibt ein paar allgemeine Aspekte der Traumatherapie mit Jugendlichen und der dritte die Anwendung von EMDR bei Jugendlichen in Verbindung mit einer manualisierten Vorgehensweise nach Dr. Ricky Greenwald. EMDR ist keine neue Therapierichtung, sondern ein schulenergänzendes Zusatzverfahren; und so ist die hier vorgestellte Möglichkeit, EMDR bei Jugendlichen anzuwenden, nur eine von vielen, die sich allerdings bewährt hat.

Der steile Weg von EMDR zur wissenschaftlichen Anerkennung war von Anfang an von großer Begeisterung und heftigen wissenschaftlichen Kontroversen begleitet. Shapiros erste Berichte (1989a, 1989b) mit Darstellungen der Vorgehensschritte beschrieben bedeutsame Besserungen der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach einer einzigen Sitzung "Eye Movement Desensitization" (EMD). Auf dem Hintergrund, dass PTBS bis dahin als schwer behandelbar und die Behandlungsmethoden als langwierig, anstrengend und begrenzt wirksam galten (Solomon, Gerrity, & Muff, 1992), stieß EMDR zunächst auf skeptische Zurückhaltung. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch eine weitere Wirksamkeitsstudie zur Therapie von PTBS, in der Peniston (1986) 45 Sitzungen Entspannung und Systematische Desensibilisierung plus Biofeedback mit einer Kontrollgruppe ohne Therapie verglichen und nur bei einzelnen Symptomen [Albträume, Muskelanspannung, Angst] von PTBS einen signifikanten Rückgang festgestellt hatte. Im Jahr der ersten Untersuchung von Francine Shapiro wurden noch drei weitere Untersuchungen zur Behandlung von PTBS veröffentlicht, von denen keine auch nur annähernd vergleichbare Behandlungserfolge berichten konnte.

Beachtung schenkte die Fachöffentlichkeit den Ergebnissen von Shapiro (1989a) jedoch erst, als ihr Doktorvater Joseph Wolpe ihre Arbeit mit einer Anmerkung über seine eigenen Erfolge ergänzte (Shapiro, 1989b) und eine eigene EMD-Falldarstellung veröffentlichte (Wolpe & Abrams, 1991). Nachdem er 1991 auf einem Jahrestreffen der "Association for the Advancement of Behavior Therapy" EMD als einen wichtigen Meilenstein bezeichnet hatte, kam es zu einer Flut von Einzelfallstudien [Eine Auflistung enthält Shapiro (1995)] und kritischen Replikationsstudien. Gerade die Tatsache, dass in vielen dieser Fälle bereits nach der ersten Sitzung eine deutliche Erleichterung auftrat, schürte die Kritik, EMD masse sich eine höhere Wirksamkeit als die wissenschaftlich viel besser untersuchten kognitiv-verhaltens-therapeutischen Verfahren an (z.B. Herbert & Meuser, 1995). Shapiro entkräftigte dieses Argument damit, dass zu dieser Zeit noch kein einziges Verfahren zur Behandlung von PTBS ausreichend mit Kontrollgruppendesigns untersucht war, wie die Literaturrecherche von Solomon et al. (1992) [Solomon et al. (1992) fanden in der Literatur lediglich sechs psychotherapeutische Studien und bewerteten alle als methodisch begrenzt] belegt.

Mittlerweile hatte Francine Shapiro gemerkt, dass viele Therapeutinnen in den Untersuchungen ihrer Methode von ihrem ursprünglichen Vorgehen abwichen. Sie würdigte die Komplexität ihres Vorgehens, indem sie die prozessgeleiteten Elemente ausformulierte und diese mit dem Wort "reprocessing" dem Namen hinzufügte (Shapiro, 1991b). Sie erweiterte ihr Ausbildungscurriculum um sorgfältig angeleitete und supervidierte Therapieübungen in Kleingruppen und empfahl dieses supervidierte Training als Mindestvoraussetzung für die therapeutische und wissenschaftliche Anwendung (Shapiro, 1991a) - ein Standpunkt, der durch spätere Forschungsergebnisse bestätigt wurde (Greenwald, 1995a, 1996). In der Zwischenzeit wichen die veröffentlichten Wirkungen von EMD und EMDR deutlich voneinander ab, wahrscheinlich aufgrund der, durch die Ergänzungen erreichten Unterschiede dieser beiden Verfahren (Greenwald, 1994b, 1996). Dies führte zu einer Spaltung zwischen den nun sehr gut in EMDR ausgebildeten Therapeuten, die ihrer positiven Erfahrung vertrauen konnten, und den angemessen kritischen Wissenschaftlern, die von den vorliegenden empirischen Daten nicht zu überzeugen waren. Nach acht kontrollierten Studien wurde EMDR als Behandlungsmethode vom Berufsverband amerikanischer Psychologen (APA) anerkannt. Und das Lehrbuch zu EMDR veröffentlicht (Shapiro, 1995). Gleichzeitig wurde die von Dr. Francine Shapiro unabhängige Fachgesellschaft EMDRIA (EMDR International Association) gegründet, um einheitliche Richtlinien zur Lehre und Anwendung von EMDR zu schaffen.

EMDR als Behandlungsstandard für PTBS

Seit dem Literaturüberblick von Solomon et al. (1992) sind bis heute nur vier randomisierte Vergleichsuntersuchungen mit Kontrollgruppendesign zur Behandlung von PTBS mit anderen Verfahren als EMDR veröffentlicht worden - ausgenommen pharmazeutischer und Biofeedback-Studien:

Im Vergleich zu diesen Ergebnissen ergaben alle Untersuchungen zu EMDR, mit im zivilen Bereich traumatisierten Probanden - bis auf eine, eine Remissionsrate von 77 bis 100% nach drei 90-minütigen Sitzungen. (Allen et al., 1999; Maxfield & Hyer, im Druck; Spector & Read, 1998).

Mittlerweile kann EMDR auf Grund von 14 randomisierten Untersuchungen mit Kontrollgruppendesign als Behandlungsstandard für PTBS gelten:

Vergleich mit anderen Behandlungsmethoden für PTBS

EMDR wurde mit verschiedenen anderen Therapiebedingungen verglichen: (1) Kontrollgruppe auf Warteliste (Rothbaum, 1997; Wilson et al., 1995, 1997), (2) Versorgungsstandard der US-amerikanischen Veteran Administration (Boudewynss& Hyer, 1996; Jensen, 1994), (3) Entspannung mit Biofeedback (Carlson et al., 1998), (4) Entspannung (Vaughan et al., 1994), (5) Aktives Zuhören (Scheck et al., 1998), (6) einzeltherapeutische Verfahren (z.B. Exposition, kognitiv, tiefenpsychologisch; Marcus et al., 1997), (7) Expositionsverfahren (Vaughan et al., 1994; Ironson et al., im Druck), (8) Kombinationen aus Expositions- und kognitiven Verfahren (Devilly & Spence, 1999; Lee & Gavriel, 1998).

Alle Wirksamkeitsstudien zur PTBS-Behandlung, die mit Kriegstraumatisierten durchgeführt wurden, weisen methodische Mängel auf. In den Untersuchungen zu PTBS im zivilen Bereich war EMDR durchgängig wirksamer als alle Kontrollbedingungen außer bei Devilly & Spence (1999). Devilly und Spence stellten in ihrem Vergleich von EMDR mit einem "Trauma Treatment Protokoll (TTP)" mit EMDR eine niedrigere Remissionsquote fest. TTP ist eine Mischung aus in vivo und in sensu Exposition, kognitiver Umstrukturierung und Stress- Impfungs-Training. Das Protokoll wurde von den Untersuchern selbst entwickelt. Shapiro betont, dass die Effektivität dieses Protokolls in anderen Studien repliziert werden und Konfundierungen (mangelnde Randomisierung, nicht standardisierte psychometrische Messungen) wie in der Deville und Spence Studie dabei vermieden werden sollten. Exposition erwies sich als ähnlich wirksam wie Stress-Impfungstraining und wirksamer als unterstützende Gespräche und Warteliste (Foa et al., 1991, 1999). Exposition und kognitive Therapie zeigten vergleichbare Erfolge und waren Entspannungsverfahren gegenüber überlegen (Marks et al., 1988). Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass 77 bis 90% der Probanden nach EMDR im Unterschied zu vorher kein PTBS mehr haben. Die anderen Studien, die EMDR mit kognitiv verhaltenstherapeutischen Ansätzen vergleichen, fanden EMDR teilweise überlegen und teilweise ebenso wirksam (Ironson et al., in Druck; Lee& Gavriel; Rogers et al., 1999; Vaughan et al., 1994).

Die Metaanalyse aller Behandlungsformen von PTBS von Van Etten & Taylor (1998) zeigte EMDR, Verhaltenstherapie und SSRIs als wirksamste Verfahren. Van Etten und Taylor schlossen, dass EMDR die effizienteste Therapieform ist, da die Studien zeigten, dass man mit EMDR die gleiche Wirkung in einem Drittel der Zeit erzielen kann, verglichen mit kognitiv verhaltenstherapeutischen Verfahren.

Die Schwierigkeit beim direkten Vergleich von Behandlungstechniken liegt darin, dass es sich häufig um wechselnde Behandlungsprotokolle handelt. Das Vorgehen mit EMDR ist seit 1991 weitgehend gleich geblieben (Anwendung standardisierter Untersuchungselemente, begrenztes Maß an direkter Aufmerksamkeit und Exposition, freie Assoziation, kognitive Umstrukturierung, verschiedene Methoden bilateraler Stimulation) und seit 1995 ist das Standardprotokoll für den Therapieverlauf veröffentlicht (Shapiro, 1995). Im Gegensatz dazu haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsabläufe sehr stark verändert und kontinuierlich neue Elemente in ihre Protokolle einbezogen. Shapiro führt hierfür die Studie von Foa et al. (1991) als Beispiel an, bei der während der ersten Evaluation von Expositionsbehandlung bei, im zivilen Bereich Traumatisierten zusätzlich zu in vivo Exposition eine 90-minütige in sensu Exposition und tägliche Hausaufgaben mit in sensu Exposition durchgeführt wurden. 25 Stunden Exposition führten hier zu einer 55%-igen Remission der PTBS. In der anschließenden erneuten Überprüfung des Protokolls von Foa (Tarrier et al., 1999) wurden 16 einstündige Sitzungen durchgeführt, wobei für einige Teilnehmer ein spezifisch hierarchischer Ansatz eingeführt wurde und die Hausaufgaben herausgenommen wurden. Auch diese Studie führt zu einer 50%-igen Remissionsrate von PTBS. Die einzige andere Vergleichsstudie von einem unabhängigen Forscherteam, die sich mit reiner Exposition beschäftigt (Marks et al., 1998) ergänzte die Exposition in sensu während der Sitzungen mit zusätzlich in vivo Exposition und täglichen Haus-aufgaben mit einer Gesamtzeit von 112 Stunden Exposition und fand danach eine Remission von PTBS bei 80% der Probanden. Die Untersuchungen zur Wirksamkeit kognitiver Therapie (Foa et al., 1991; Marks et al., 1998; Tarrier et al., 1999) benutzten jeweils unterschiedliche Therapieprotokolle, ebenso wie die fünf Studien zu kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren (Devilly & Spence, 1999; Echeburua et al., 1997; Foa et al., 1999; Glynn et al., 1999; Marks et al., 1998).

Basiert EMDR auf einem neuen Prinzip?

Nachdem sich EMDR insgesamt als eine wirksame Therapie für PTBS erwiesen hat, stellt sich nun die Frage, welche Komponenten des Verfahrens zu dieser Wirkung führen. In der Zusammenfassung der ISTSS-Richtlinien [ISTSS: International Society for Traumatic Stress Studies] heißt es: "Der Forschungsstand legt nahe, dass EMDR für PTBS eine effektive Behandlung ist. Ob die Effektivität nun darin besteht, dass es sich um eine neue Variante der Expositionstherapie handelt (mit einigen Zutaten der kognitiven Therapie) oder ob es auf neuen Prinzipien basiert ist unklar" (Shalev, Foa, Keane, & Friedman, 2000, S.366). Shapiro bezeichnet diese Frage als besonders wichtig, da es sich bei EMDR eher um unterbrochene als um andauernde Exposition im Zusammenhang freier Assoziation handelt. Das sei den Prinzipien und der Praxis von Expositionsverfahren vollkommen entgegengesetzt.

Jede Therapiemethode besteht aus einer Reihe von Elementen, deren relative Gewichtung und Interaktion miteinander erst einmal nicht bekannt sind. Zur Beantwortung dieser Fragen sind Komponentenanalysen notwendig.

In der einzigen Komponentenanalyse mit PTBS-diagnostizierten Probanden zur Evaluation des original "EMD" Protokolls (Shapiro, 1989a) war die Komponente Augenbewegungen notwendig, um positive Behandlungserfolge zu erzielen. Bei fünf von sechs Beteiligten führten die Augenbewegungen zur Verringerung von subjektivem Stress und reduzierten das Ausmaß psycho-physiologischer Erregung. Die jetzige Version von EMDR wurde mit einer ganzen Reihe klinischer Elemente verfeinert. Deswegen ist zu vermuten, dass EMDR auch ohne Augenbewegungen bleibende therapeutische Effekte haben könnte.

Die Komponentenanalysen, die bisher mit EMDR durchgeführt wurden, zeigen sowohl in Gruppen- als auch in Einzeluntersuchungen, dass die Augenbewegungen für den Erfolg der Therapie mit EMDR wichtig sind, allerdings weist Shapiro darauf hin, dass diese Studien größtenteils mit methodischen Fehlern behaftet sind. Als ein wesentliches Problem nennt Shapiro, dass in der Placebogruppe häufig alternative Stimuli dargeboten werden, die in der Praxis auch schon seit Jahren erfolgreich im Zusammenhang mit EMDR angewendet werden. Vor diesem Hintergrund sei es dann nicht verwunderlich, dass keine Unterschiede zwischen Kontroll- und Experimentalgruppe gefunden würden. Ein Beispiel ist die Untersuchung von Pitman (1996), in der die Bedingung EMDR mit Augenbewegungen mit der Bedingung "Blickfixierung mit bilateraler Handbewegung des Therapeuten" verglichen wurde. Gegen eine so gewählte Kontrollgruppe sprechen auch die Ergebnisse von Corbetta et al. (1998), der beim Vergleich der Bedingungen bilateraler Augenbewegungen und Blickfixierung mit peripher bilateraler Aufmerksamkeit eine 80%-ige Überlappung von Hirnaktivitäten feststellte. Dies stimmt mit der Hypothese überein, dass Aufmerksamkeits- und okulo-motorische Prozesse auf neuronaler Ebene eng verknüpft sind.

Eine Hypothese über die Wirkung der Augenbewegungen bei EMDR ist, dass "sie die Lebhaftigkeit belastendender Bilder verringern, indem sie die Funktion des visuell-räumlichen Zentrums des Ultrakurzzeitgedächtnisses unterbrechen und so die Intensität der Emotionen, die mit diesem Bild assoziiert sind, verringern. Demnach müssten auch andere visuell-räumliche Aufgaben therapeutisch wertvoll sein." (Andrade et al.,1997, S.209). Andrade konnte diese Hypothese in einer Reihe von Untersuchungen bestätigen. Es zeigte sich, dass die Augen-bewegungen den anderen dualen Aufmerksamkeitsbedingungen bei der Wirkung auf Bildhaftigkeit und Intensität autobiografischer Bedingungen überlegen sind, während der Effekt auf, im Labor induzierte Erinnerung bei allen Bedingungen gleich ist (Andrade, 1997).

Lohr et al. konnten diese Beobachtung in einer Untersuchung mit Phobikern replizieren. Die Augenbewegungen waren nur dann für die Wirksamkeit von EMDR notwendig, wenn es sich um autobiografische Erinnerungen handelte (Lohr et al., 1997). Diese Befunde sind sehr bedeutsam, da es sich bei ätiologischen autobiografischen Erinnerungen um einen wesentlichen Bestandteil der Diagnose PTBS handelt und außerdem die Unterscheidung zwischen autobiografischen Erinnerungen und konditionierten Reaktionen erleichtert wird (siehe de Jong et al., 1999; Shapiro, 1995, im Druck).

Die Anwendung von EMDR bei Jugendlichen

Greenwald (in press-b) vergleicht in einer Untersuchung von 29 männlichen Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens, die zu diesem Zeitpunkt alle stationär oder teilstationär untergebracht waren und drei Sitzungen EMDR bekamen, mit einer randomisierten Kontrollgruppe. Die Gruppe, die drei Sitzungen EMDR erhielt, verzeichnete einen deutlichen und signifikanten Rückgang der von Erinnerungen ausgelösten Stresssymptomatik sowie eine Tendenz zur Remission posttraumatischer Symptome. Noch bei der Nachuntersuchung 2 Monate nach Therapieende zeigte diese Gruppe signifikant weniger Verhaltensprobleme als die Kontrollgruppe. Diese Ergebnisse sprechen für die Anwendung von EMDR zur traumaorientierten Therapie bei männlichen Jugendlichen im Alter von 10-16 und die Hypothese, dass wirksame Traumaarbeit bei dieser Population Störungen des Sozialverhaltens verringert.

Familiensystem und Traumatogramm

Jugendliche wachsen in einem Familiensystem oder einem professionellen Betreuungssystem auf, welches seinerseits in das soziale Netz der Gemeinde mit seinem Helfersystem eingebettet ist. Zur Darstellung der jeweiligen Systeme sind Genogramme und Soziogramme geeignet, in welche die häufigsten Attribute von Systemen eingetragen werden, die besonders anfällig für Traumatisierungen von Kindern sind oder bereits systemische Traumafolgen zeigen:

Posttraumatische Symptome, die eine Funktion im System haben und dadurch immer wieder sekundär verstärkt werden, können nicht individuell gelöst werden - auch nicht durch EMDR. Hier sind systemische Interventionen vorrangig geboten.

Entwicklung der emotionalen Selbstregulation und Verhaltenssteuerung

Der Austausch von Information zwischen den Gehirnhälften und die Synchronisation der Gehirnhälften ist von frühester Kindheit an zur Entwicklung der emotionalen Selbstregulation und zum Umgang mit Verhaltensimpulsen notwendig.

Der Verlust der Fähigkeit, die Intensität von Gefühlen und Handlungsimpulsen zu steuern, ist für Kinder die weitreichendste Folge traumatischer Belastungen. Die innere Selbstregulation ist dann besonders gestört, wenn eine sichere Bindung zu den Eltern fehlt. Wenn die innere Selbstregulation nicht ausreicht, den inneren Zustand erträglich zu machen, versuchen Kinder, diesen mit Hilfe von äußerem Verhalten zu regulieren. Hierzu zählen aggressive und selbstschädigende Handlungen, Essstörungen und Sucht. Die Fähigkeit zur Steuerung innerer Zustände beeinflusst wiederum das Selbstbild wie auch das Bild von Anderen und der Welt.

Das MASTR-Therapiemanual nach Ricky Greenwald

MASTR steht für "Motivation" - "Adaptive Skills" (Kompetenzen) und "Trauma Resolution" (Traumabearbeitung) und beschreibt den strukturierten Einsatz von EMDR mit Jugendlichen in der Version nach Dr. Ricky Greenwald (1999, 2000). Das geschilderte Vorgehen kann unabhängig von stationärer Unterbringung, schulischer oder häuslicher Umgebung eingesetzt werden, obwohl eine solche Einbindung vorteilhaft ist. Eine äußere Verpflichtung, die Sitzungen zu besuchen, ist hilfreich. Der Ablauf ist strukturiert, angeleitet und relativ kurz (ungefähr 2 bis 6 Monate). Eine Therapiestunde pro Woche reicht aus. MASTR ist ein traumazentrierter Ansatz (Greenwald, in press-a), der sich auf die Annahme stützt, dass traumatische Erfahrungen sowohl zur Entwicklung wie auch zur Aufrechterhaltung von Störungen des Sozialverhaltens im Jugendalter beitragen (Greenwald, in press-b). Es besteht aus drei sich überschneidenden Phasen: Motivation, Kompetenztraining und Traumabearbeitung, jeweils unter Einbeziehung von EMDR. Sicher verläuft die tatsächliche Behandlung nicht immer nach Plan. Je nach der Person des Therapeuten, des Klienten und je nach Situation entstehen vielfältige Variationen. Das Manual kann aber trotzdem als Vorbild und Richtschnur dienen. Die Inhalte des Manuals stammen aus den Workshops und Veröffentlichungen von Ricky Greenwald aus den Jahren 1997, 1999, 2000 und in press-a.

1 Motivationsentwicklung im Erstgespräch

Ziele: Beziehungsaufnahme, Anamnese, Beginn der Behandlungsplanung

1.1 Klären der Vorbedingungen

1.2 Grundinformation/Perspektiven/Geschichte

Entwicklungsgeschichte

Familie

Traumata/Verluste

2 Überprüfen der Therapiemotivation

Ziele: Bestimmung persönlicher Ziele, Verpflichtung auf die Therapie

2.1 Zukunftsfilme

Gutes Ende

Schlechtes Ende

2.2 Verpflichtung auf die Therapie

Wie groß ist die innere Neigung in jeder Richtung?

Stärken und Hindernisse

Behandlungsplan

3 Kompetenztraining

Ziele: Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle, geringere Provozierbarkeit

3.1 Aggressions-Frühwarnsystem

3.2 Entscheidungen haben Folgen

3.3 Schutz vor Provokationen

Vorbereitung

Phantasiespiel

Trennwände

Vorbild

4 Traumabearbeitung

Ziele: Erweiterung der emotionalen Verarbeitungskapazität; Verarbeitung von Verlust- und Traumafolgen

4.1 Vorbereitung

Risiken/Ängste

4.2 Anwendung des EMDR-Protokolls zur Bearbeitung einer kurz
zurückliegenden und nur gering belastenden Erfahrung

4.3 Anwendung des EMDR-Protokolls zur Bearbeitung traumatischer
Erfahrungen oder von Verlusterfahrungen

Das hier dargestellt manualisierte Vorgehen soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns als Therapeuten angesichts schwerer Traumatisierungen und deren Ausdruck im Verhalten von Jugendlichen sehr hilflos und ohnmächtig fühlen können. Genauso wie ein Plan für den Notfall immer schon rechtzeitig vorbereitet sein sollte, bevor der Notfall eintritt, ist es auch in der Therapie nützlich, einen gut vorbereiteten Plan für die Therapie zu haben, um sich den eigenen Gefühlen und denen des Klienten öffnen zu können.

Es genügt meiner Ansicht nach jedoch nicht, die therapeutische Sicherheit aus dem präsenten Kontakt mit den eigenen Gefühlen und sorgfältig vorstrukturierten Möglichkeiten therapeutischen Handelns zu beziehen. Ebenso wichtig erscheint mir die Pflege und Tragfähigkeit des beruflichen Netzwerks, in dem wir uns selbst Anregungen, Unterstützung und Hilfe holen können - einschließlich der eigenen Supervision, der berufspolitischen, ökonomischen und arbeitsrechtlichen Absicherung, um uns von der in diesem Arbeitsfeld so häufigen sekundären Traumatisierung jederzeit angemessen erholen zu können.

Literatur

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