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Alle Rechte beim Institut für Traumatherapie Oliver Schubbe bzw. beim Autor.
Andrea tritt aus dem Haus und überquert wie jeden Tag die Straße. Plötzlich erfaßt sie ein schneller Wagen. Sie fliegt in hohem Bogen auf den Gehweg. Dort liegt sie. Minutenlang. Hilflos.
Erst im Krankenhaus kümmert sich der Fahrer des Wagens um ihr Wohlbefinden. Andrea spürt, daß ihr die Zuwendung gut tut. Als sie entlassen ist, lädt sie ihn zu sich in die Wohnung ein. Sie genießt es, in den Arm genommen zu werden. Das ist ihr genug, mehr will sie nicht von ihm. Doch diese Worte bleiben ihr im Halse stecken. Plötzlich ist sie wie gelähmt. Hilflos. Verwirrt: Ist das Vergewaltigung?
Jedes Mal, wenn Andrea aus dem Haus tritt und wie jeden Tag die Straße überqueren will, fühlt sie sich nun angsterfüllt und hilflos. Das ist ihr zu viel. Sie beginnt eine Psychotherapie. In der dritten Sitzung erkennt sie ihr immer wieder auftauchendes und übergroßes Gefühl der Hilflosigkeit wieder: Es ist dasselbe, das sie in der Schulzeit so oft hatte. Zum ersten Mal erinnert sie sich wieder daran, wie ihr Cousin sie damals sexuell mißbrauchte.
Aktuelle Ereignisse wie der Verkehrsunfall von Andrea können längst vergessen geglaubte Erinnerungen wachrufen. Bei Andrea hatte die Erinnerung an die sexuelle Traumatisierung durch ihren Cousin jahrzehntelang unverarbeitet im Gedächtnis geschlummert. Das den Bann der Amnesie brechende Ereignis mußte genau den passenden Schlüsselreiz enthalten: den gleichen emotionalen Zustand oder Sinnesreiz wie damals.
Die Erinnerung an das Trauma sexuellen Mißbrauchs kam in der Therapie wieder, denn dort schenkte Andrea ihre Aufmerksamkeit zum ersten Mal ganz ihrem emotionalen Zustand der Hilflosigkeit. Gefühle sind die wirksamsten Schlüsselreize. Entsprechend aufdeckend wirkt therapeutische Arbeit an Gefühlen. Wer eine solche Arbeit anleitet, kann dabei auf alle möglichen traumatischen Erinnerungen - nicht nur an sexuellen Mißbrauch - stoßen: Mißhandlungen, Unfälle, Überfälle, Kriegserfahrungen und Katastrophen. Dann erweist es sich als nützlich, die Grundlagen der Traumatherapie zu kennen.
Grundlagen der Traumatherapie
Trauma und Traumafolgen
Ein psychisches Trauma kann als unausweichliche und alle verfügbaren Bewältigungsmechanismen überfordernde Erfahrung definiert werden. Der Grad der Beeinträchtigung nach einem Trauma wird vom Umfang traumatischer Vorerfahrungen und der unmittelbaren Reaktion der Bezugspersonen mitbestimmt.
Das Erinnerungsvermögen an das Trauma kann durch Amnesie oder eine andere Gedächtnisstörung ausgeschaltet sein. Meistens besteht die Beeinträchtigung nach dem Trauma aber ganz im Gegenteil darin, daß die Erinnerung ungewollt und in den unpassendsten Situationen rund um die Uhr ins Bewußtsein dringt. Jede Alltagssituation und jeder nächtliche Traum kann auslösende Schlüsselreize enthalten. Tags kommt es zu sogenannten Nachhallerinnerungen, zu Flashbacks und damit auch oft zu Konzentrations- und Leistungsstörungen. Nachts entstehen auf diese Weise Alpträume und Traumunterbrechungs-Schlafstörungen. Unter der Dauerbelastung unerwünschter Rückerinnerungen versuchen viele traumatisierte Menschen, den auslösenden Schlüsselreizen zu entfliehen. Das führt dazu, auslösende Gefühle und Körperempfindungen, bestimmte Menschen, Orte und Aktivitäten oder sogar ganze Lebensbereiche zu vermeiden. Die Dauerbelastung selbst kann sich in dauernder innerer Alarmbereitschaft, körperlichen Streßerscheinungen, Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen äußern. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen verbunden und Suizidgedanken nicht selten. Zusammengenommen ergeben die genannten Beeinträchtigungen das Störungsbild der "Posttraumatischen Belastungsstörung".
Die aktuelle Klassifikation der Krankheiten ICD-10 beschreibt drei psychische Störungen explizit als Traumafolge: die nur Stunden oder Tage andauernde "Akute Belastungsreaktion" (F43.0), die "Posttraumatische Belastungsstörung" (F43.1) und deren chronische Variante, die "Andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung" (F62.0). Davon ist alleine die Posttraumatische Belastungsstörung so verbreitet, daß sie wie Diabetes oder Alkoholismus als Volkskrankheit bezeichnet werden kann. Bisherige Untersuchungen fanden in der Normalbevölkerung eine Lebenszeit-Prävalenz von ungefähr 7 Prozent (Norris 1992), für Diabetes und Alkoholismus um die 4 Prozent.
Die bestehenden Kategorien der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV sind nur begrenzt geeignet, die Folgen sexuellen Mißbrauchs zu beschreiben (Teegen et al. 1995). Eine angemessene Lösung könnte die Neudefinition einer "Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung" bieten, die folgende Symptome traumatisierender Gewaltausübung in Gesellschaft oder Familie umfassen würde: Störungen der Affektregulation, Bewußtseinsveränderungen, gestörte Selbstwahrnehmung, gestörte Wahrnehmung des Täters, Beziehungsprobleme sowie eine Veränderung des Wertesystems (Herman 1993).
Traumagedächtnis und Verarbeitung
Erinnerungen an traumatische Erfahrungen können sich ganz wesentlich von den gewohnten Erinnerungen unterscheiden. Die einzelnen Sinneseindrücke konnten zur Zeit des Traumas aufgrund der Überforderung zu keiner Erinnerungsgeschichte zusammengefügt oder versprachlicht werden. So bestehen sie noch lange aus einer wilden Sammlung von Bildern, Stimmen und Geräuschen, Gerüchen und Geschmacksempfindungen, körperlichen Empfindungen, Gefühlszuständen und Verhaltensmustern. Diese Fragmente bleiben manchmal sogar über Jahre und Jahrzehnte hinweg stabil und erscheinen danach immer noch so frisch wie am ersten Tag. Übliche Erinnerungen können dagegen im Laufe der Zeit sozialen Erwartungen angepaßt, erweitert und verdichtet werden. Willkürlich sind traumatische Erinnerungen schwerer zugänglich, aber der kleinste Schlüsselreiz kann genügen, sie - meist genauso ungewollt - hervorzuholen.
Es ist an dieser Stelle nützlich, zwischen explizitem und implizitem Langzeitgedächtnis zu unterscheiden. Das explizite Gedächtnis enthält alle bewußt abrufbaren Erinnerungen, beispielsweise an Fakten und Lebensereignisse. Um explizit gespeichert werden zu können, werden zuerst alle zu einem Ereignis gehörenden Sinneseindrücke, Gefühle und Gedanken in den jeweils zuständigen Bereichen der Hirnrinde abgelegt. Danach müssen die einzelnen Fragmente in einem langsamen Prozeß, bei dem Träume und Rückerinnerungen eine wichtige Rolle spielen, zu einer zusammenhängenden Erinnerung verwoben werden. Diese sogenannte Konsolidierung kann je nach der Art des Ereignisses Wochen oder Monate in Anspruch nehmen. Die explizite Art der Speicherung ist anfällig für Streß, so daß traumatische Erfahrungen an verschiedenen Stellen dieses komplizierten Verarbeitungsprozesses quasi steckenbleiben können. Oft ist Psychotherapie notwendig, um die Verarbeitung zu Ende zu führen.
Das implizite Gedächtnis ist entwicklungsgeschichtlich älter und wesentlich weniger streßanfällig. Es ist nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Nervensystem und anderen Zellen des Körpers lokalisiert und speichert Verhaltensmuster, die Empfindlichkeit für Schlüsselreize und die Konditionierung von Körperreaktionen. Diese Informationen lassen sich jedoch nicht bewußt erinnern, sondern nur als Reaktionen auf bestimmte Situationen beobachten.
Das explizite Gedächtnis kann in unterschiedlicher Weise beieinträchtigt sein: durch (1) Amnesie, (2) Dissoziation oder eine (3) generelle Gedächtnisstörung.
1. Bei der Amnesie können das traumatische Ereignis oder einzelne Momente nicht erinnert werden. Diese Störung ist als Folge traumatischer Ereignisse seit über hundert Jahren bekannt (Janet 1889). Sie tritt im Vergleich zu unwillkürlichen Erinnerungen selten auf, ist jedoch für alle Arten von Traumata belegt, so auch für körperliche Mißhandlung und sexuellen Mißbrauch (Briere et al. 1993, Janet 1893, Loftus et al. 1994, Williams 1994). Je geringer das Alter und je stärker das Trauma, desto häufiger tritt Amnesie auf (Briere et al. 1993, Herman et al. 1987, van der Kolk et al. 1993). Die Amnesie kann über Stunden, Wochen oder gar Jahrzehnte anhalten. Der wichtigste Schlüsselreiz, um amnestische Erinnerungen wieder zugänglich zu machen, ist ein möglichst identischer Gefühlszustand. Deshalb beendet manchmal erst ein neues Trauma die Amnesie.
2. Dissoziation bezeichnet die Fragmentierung oder Abspaltung von Teilen der Erfahrung. Der Begriff wird verwendet, um vier verschiedene, aber miteinander zusammenhängende Erscheinungen zu beschreiben:
3. Die generelle Gedächtnisstörung nach Traumatisierungen ist wohl bekannt, aber noch kaum erforscht. Sie tritt insbesondere bei langjährig traumatisierten Kindern auf. Deshalb wird angenommen, daß solche Kinder angesichts zahlreicher auf Amnesie und Dissoziation zurückgehender Gedächtnislücken keine ausreichende Gelegenheit haben, zusammenhängende Erinnerungsgeschichten bilden zu lernen.
Eine Posttraumatische Belastungsstörung in der Elterngeneration kann zu sekundärer Traumatisierung in der zweiten Generation führen (Hardtmann 1992, Harkness 1993), u.a. durch Ausagieren von Gewalt, Isolation der Familie, Kinder in der Elternrolle (Parentifizierung), symbiotisches Miterleben von Flashbacks und Alpträumen. In Deutschland finden die sekundären Traumatisierungen der Nachkriegsgeneration im Vergleich zu beispielsweise den Niederlanden und den Vereinigten Staaten noch sehr wenig Beachtung. Dies wie auch die Teilung Deutschlands und Aspekte der Wiedervereinigung können als dissoziative Erscheinung (Abspaltung und Fragmentierung von Erfahrung) auf gesellschaftlicher Ebene verstanden werden.
Grundsätze der Traumatherapie
1. Normalität: Traumatisierte Menschen denken schnell, ihre Reaktion und sie selbst seien nicht mehr ganz normal. HelferInnen haben die Aufgabe, die Symptome als übliche Reaktionen auf ein außergewöhnliches Ereignis verstehen zu helfen. Es sollte erwähnt werden, daß die Symptome sehr schmerzhaft, verwirrend und trotz ihrer weiten Verbreitung so unbekannt sein können, daß selbst wichtige Bezugspersonen sie nicht gleich verstehen.
2. Individualität: Die psychischen Reaktionen auf traumatische Ereignisse - von leichteren Unfällen bis zu sexuellem Mißbrauch und Folter - sind so individuell und verschieden wie Fingerabdrücke. Von Anfang an gilt es, auf Besonderheiten der Symptomatik zu achten und einen "maßgeschneiderten" Behandlungsplan zu erstellen.
3. Selbstbestimmung: Menschen, deren Sicherheitsempfinden und persönliche Würde schwer verletzt wurde, neigen zunächst dazu, in der Opferrolle zu verharren. Um das Trauma zu überwinden, müssen sie wieder Zugang zu ihren Stärken und eigenen Bewältigungsstrategien finden. Die KlientInnen benötigen deshalb besonders in der Therapie die Chance, das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen und gestalten zu lernen. Entscheidungen über Form und Verlauf der Behandlung sollten mit der KlientIn in Ruhe besprochen und gemeinsam getroffen werden.
4. Zusammenarbeit: Die Kommunikation und Zusammenarbeit von PsychotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, JuristInnen und ÄrztInnen verschiedener Fachrichtungen ist für den Verlauf der Therapie von entscheidender Bedeutung. Achten die professionellen Helfer nicht darauf, überträgt sich die Dynamik traumatisierter Familien leicht auf das Helfersystem, führt dort zu sogenannten Stellvertreterkonflikten und untergräbt die Wirksamkeit des Hilfsangebots.
5. Tiefung: Da unverarbeitete Erinnerungen mehr oder weniger fragmentiert und auf verschiedenen Sinnesebenen "verstreut" vorliegen, sollen alle relevanten Sinnesebenen möglichst intensiv angesprochen werden. Die Aufmerksamkeit sollte insbesondere auf die Körperempfindungen, die eine unverarbeitete Erinnerung begleiten, gelenkt werden. Dabei werden die Gedanken ruhiger, und das Gefühl tritt stärker hervor. Das therapeutische Verfahren sollte der KlientIn die Möglichkeit geben, überflutende emotionale Zustände und intrusive Erinnerungen unter Kontrolle zu behalten. Die bifokale Traumatherapie bietet dazu einen äußeren Reiz im Hier und Jetzt, auf den die KlientIn einen Teil ihre Aufmerksamkeit lenken kann, um die innere Wahrnehmung gegen die Wahrnehmung des äußeren Reizes auszubalancieren.
6. Verwendung von Symbolen: Angesichts extremer Höhen und Tiefen menschlicher Erfahrung, wenn Worte versagen oder ungenügend erscheinen, verständigen wir uns auf der symbolischen Ebene mit Gesten, Metaphern, Bildern, Spielen und Ritualen. Es gilt sogar als wahrscheinlich, daß sich die Kunst ursprünglich als eine Form des Ausdrucks traumatischer Erfahrungen entwickelt hat. Ebenso wie die symbolische Verschlüsselung im Traum dazu dient, ruhig weiterzuschlafen, so schützt der Einsatz von Symbolen in der Traumatherapie vor Nachhallerinnerungen und Flashbacks. Symbole ermöglichen durch ihre vielschichtigen Mehrfachbedeutungen eine Fülle von Assoziationen und damit die Integration von Erinnerungsfragmenten (Schubbe 1994).
7. Zurückführen in einen entspannten Zustand: In der Traumatherapie, einer Therapie, in der intrusive Erinnerungen zusätzlich vertieft werden, ist es besonders wichtig, die behandelten Themen gut abzuschließen und die KlientInnen nach noch so bewegten Sitzungen in einen entspannten Zustand zurückzuführen. Hierzu haben sich zwei Übungen besonders bewährt: "Sicherer Ort" und die "Lichtstrahlmethode":
Sicherer Ort: Entwickle bereits in einer der ersten Sitzungen gemeinsam mit der KlientIn die Vorstellung von einem sicheren Ort. Lasse die KlientIn ein Bild schildern, das ihr ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit vermittelt. Fordere sie dann auf, sich das Bild vorzustellen, die Körperempfindungen dazu zu registrieren und das Bild mit einem beschreibenden Wort zu verknüpfen (z.B. Strand, Berg, Bäume). Lege der KlientIn nahe, daß dies ein sicherer Ort sein kann, an den sie sich in Zeiten der Anspannung innerlich zurückziehen kann, und den Ihr gemeinsam am Ende einer Sitzung aufsuchen könnt.
Lichtstrahlmethode: Bitte die KlientIn, sich auf eine beunruhigende Körperempfindung zu konzentrieren. Erhebe die folgenden Qualitäten: Wenn es eine ... (Form, Größe, Farbe, Temperatur, Oberflächenstruktur, Gewicht) hätte, welche ... hätte es? Frage nach der Farbe, die für die KlientIn in besonderem Maße mit Heilung verbunden ist. Sage: "Stellen Sie sich vor, daß ein Licht in Ihrer bevorzugten Farbe durch Ihre Schädeldecke strömt und in den Gegenstand in Ihrem Körper fließt. Stellen Sie sich vor, daß die Quelle des Lichts der Kosmos ist. Je mehr Sie es gebrauchen, desto mehr ist davon verfügbar. Das Licht fließt in den Gegenstand, durchflutet ihn, vibriert in ihm und um ihn herum. Und indem dies geschieht, was passiert mit dem Gegenstand?" Wenn der Klient signalisiert, daß sich eine Qualität verändert, wiederhole die in Anführungszeichen gesetzte Passage, bitte erneut um Rückmeldung, bis sich der Gegenstand ganz aufgelöst hat. Dies geht gewöhnlich mit der Auflösung des beunruhigenden Gefühls einher. Sobald die KlientIn sich besser fühlt, lasse das Licht in den gesamten Körper fließen. Gib eine positive Suggestion zur Erreichung von Entspannung und innerem Frieden bis zur nächsten Sitzung. Bitte die KlientIn, aufzuwachen und bewußt zu werden, nachdem du bis fünf gezählt hast (Shapiro 1995).
Grundsätzlich besitzt jede anerkannte Form der Psychotherapie das "Handwerkszeug" zur Behandlung posttraumatischer Störungen: Die PsychotherapeutIn stellt ein tragfähiges Arbeitsbündnis her, schafft einen unterstützenden Rahmen für die Bearbeitung belastender Inhalte und ermöglicht den KlientInnen informierte Entscheidungen über die Form der Behandlung. Darüber hinaus gibt es spezifische Verfahren, die gezielt traumatische Erfahrungen verarbeiten helfen.
Im Laufe der vergangenen Jahre wurden solche traumatherapeutischen Verfahren unter verschiedenen Kürzeln bekannt: TIR (Traumatic Incident Reduction) ist eine regressive Methode, die aus der Psychoanalyse und kognitiven Methoden entwickelt wurde, dabei aber sehr strukturiert vorgeht (Valentine, im Druck). TFT (Thought Field Therapy) enthält Übungen, die Erinnerungen an das traumatische Ereignis mit Reizungen bestimmter Körperstellen verbindet. Diese Übungen haben den Vorteil, leicht und ohne Gefahr auch außerhalb der Therapie angewendet werden zu können. Die Methode zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung, deren Wirksamkeit von den bisher meisten Veröffentlichungen über kontrollierte Studien bestätigt werden konnte, heißt "Augendesensitivierung und Neuverarbeitung traumatischer Erfahrungen" (engl.: Eye Movement Desensitization and Reprocessing - EMDR). Es handelt sich um eine visuell-konfrontative, entspannende und stark unterstützende Methode. Bilateral wechselnde Sinnesreize (induzierte Augenbewegungen, Antippen der Hände, Schnippen mit den Händen) bringen die Verarbeitung und Integration traumatischer Erfahrungen neu in Gang und führen sie zu Ende (Shapiro 1995).
Bifokale Traumatherapie
Solche traumatherapeutischen Methoden auf der Basis der oben genannten Grundsätze können als "bifokale Traumatherapie" bezeichnet werden, weil die KlientIn gleichzeitig die belastende Erinnerung und einen aktuell dargebotenen äußeren Reiz in den Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit bringt, also fokussiert.
Die üblichen Phasen
1. Anamnese und Behandlungsplanung: Traumatisierte Menschen haben zu Beginn der Therapie oft einen großen Drang, zu erzählen, was sie erlebt haben. Manche finden dagegen überhaupt keine Worte, und wieder andere klagen vor allem über Schmerzen und körperliche Beschwerden. Nach diesen individuell geprägten Beginn steht eine biographische Anamnese mit genauem Blick auf die Problemgeschichte. Diagnostisch eingeschätzt werden: körperliche und psychische Stabilität, soziales Netz, Selbst- und Fremdgefährdung, Funktionalität von Bewältigungsmechanismen, aktuelle äußere Anforderungen sowie eine mögliche dissoziative Symptomatik (Fragebogentest FDE nach Freyberger, im Druck). Danach wird der Verlauf der Behandlung gemeinsam besprochen, z.B. ob und an welcher Stelle bifokale Methoden eingesetzt werden sollen.
2. Vorbereitung: Die Möglichkeit sekundären Symptomgewinns wird geprüft und so weit wie möglich ausgeschlossen. Sofern die KlientIn noch keine Entspannungsmethode kennt, hat sie nun Gelegenheit, eine solche zu erlernen. Sie soll damit in die Lage versetzt werden, innere Anspannung abzubauen und überwältigende Rückerinnerungen beeinflussen zu können.
3. Die Hauptphase, die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen, beansprucht die meiste Zeit der Traumatherapie und geht direkt in die Abschlußphase über. Zur Verdeutlichung soll nun der übliche Ablauf einer Sitzung aus der Hauptphase beschrieben werden:
Ablauf einer Sitzung
1. Die als Hausaufgabe gegebenen Tagebuchaufzeichnungen seit der vergangenen Sitzung bilden meist den Einstieg in die Sitzung und erlauben der TherapeutIn, die zwischenzeitliche Entwicklung zu verfolgen.
2. Aus den aktuellen Themen wählt die KlientIn diejenige belastende Erinnerung oder das Thema aus, an dem sie am dringendsten weiterkommen möchte.
3. Die KlientIn wird angeleitet, ein Bild, Geruch, Geschmack, oder Geräusche/Stimmen zu dieser Erinnerung oder diesem Thema zu finden.
4. Die TherapeutIn erfragt eine dazugehörende negative Überzeugung der KlientIn über sich selbst. Beide entwickeln zusammen die ideale positive Selbstkognition, welche die negative eines Tages ersetzen könnte. Die KlientIn wird gebeten, auf einer Skala einzuschätzen, wie wahr die ideale Selbstüberzeugung angesichts des zu bearbeitenden Themas wirklich ist.
5. Die TherapeutIn erfragt den Grad der subjektiven Beunruhigung aufgrund der belastenden Erinnerung anhand einer zweiten Skala.
6. Danach tastet die KlientIn mit oder ohne Hilfe der TherapeutIn ihren ganzen Körper von innen ab, um die mit dem Thema der Sitzung zusammenhängenden Körperempfindungen aufzuspüren und zu lokalisieren.
7. Die Konzentration auf die belastende Erinnerung wird nun durch einen von außen gegebenen Reiz unterstützt, dem die KlientIn mit ihrer Aufmerksamkeit folgen soll: waagerecht mit den Fingern geführte Augenbewegungen, beidseitig wechselnde Handberührungen oder akustische Reize. Die KlientIn folgt dabei der Veränderung ihrer inneren Bilder, ihren - manchmal schmerzhaften - Körperempfindungen, den begleitenden Gedanken und Gefühlen. Die TherapeutIn bestätigt ab und zu: "Gut so, bleib' da dabei!" Zwischendurch fragt sie nach: "Wo bist Du jetzt?" Auf diese Weise ergibt sich nicht nur eine Kette von Assoziationen verschiedener Sinnesmodalitäten, Gefühle und Gedanken, sondern ein innerer Prozeß, der dem der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten gleicht und zur Integration von Erfahrungen führt. Die gezielte Konfrontation mit belastenden Erinnerungen auf allen Ebenen der Wahrnehmung desensibilisiert gleichzeitig für traumatische Erinnerungen auslösende Reize im Alltag.
8. Abschließend wird zuvor entwickelte ideale Überzeugung der KlientIn über sich selbst mit der verarbeiteten und desensibilisierten inneren Wahrnehmung des Traumas in Beziehung gesetzt. Die Glaubwürdigkeit der idealen Selbstkognition und der Grad der Belastung durch die Erinnerung werden nun ein zweites Mal eingeschätzt; die nun meist veränderten Körperempfindungen werden neu erspürt und lokalisiert. Am Ende der Sitzung soll sich die KlientIn in einem entspannten Gleichgewichtszustand befinden.
Was ist aus Andrea geworden?
Noch in derselben Sitzung, in der sich Andrea plötzlich an die Mißbrauchshandlungen ihres Cousins erinnerte, erkannte sie sich selbst als diejenige, die sich gegen Tod und Wahnsinn hatte behaupten können. Einen Monat erlebte sie zunehmend bewußt ihr Gefühl, benutzt und seelisch zerstört worden zu sein, bis schließlich unbändige Wut in ihr aufstieg. Nun war sie zum ersten Mal in der Lage, nicht nur einer Freundin, sondern auch ihren Eltern und der ganzen Familie von ihrer Erinnerung zu erzählen. Manche Bemerkungen aus dem Familienkreis wurden ihr ebenfalls zum Ärgernis.
Sechs Wochen nach dem Unfall, als Andrea aus dem Haus trat und wie jeden Tag die Straße überqueren wollte, bemerkte sie, daß sie keine Angst mehr davor hatte. Auch nachts im Dunkeln fühlte sie sich wieder sicherer - im Haus und auf der Straße. In dieser Zeit konnte sie immer mehr ihrer emotionalen Zustände mit der Mißbrauchserfahrung in Verbindung bringen. In ihren Träumen tauchten keine gefährlichen Autos mehr auf, statt dessen aber rücksichtslose Männer. Im Verlauf des zweiten und dritten Monats fielen nach und nach schwere Schuldgefühle von ihr ab, und sie erkannte ihre Reaktionen auf den Mißbrauch als die unter den gegebenen Umständen bestmöglichen. Inzwischen konnte sie mit allen vertrauenswürdigen Menschen über ihre traumatischen Erfahrungen reden. Sie überlegte sich, ihren Cousin zu konfrontieren, entschied sich dann jedoch für ein Gespräch mit seiner Frau, die noch in derselben Nacht die Koffer packte und mit den gemeinsamen Kindern auszog.
Das zweite Vierteljahr nach dem Unfall war für Andrea eine Entdeckungsreise durch die Welt ihrer neu wiedergefundenen Sinnlichkeit. Sie erinnerte sich viel und lebhaft an das Kind, das sie bis zum Beginn ihrer Schulzeit war: das unbeschwerte, offene, aber oft aufmüpfige Mädchen. Sie kaufte sich sogar eine Nuckelflasche und einen Teddybären mit eingenähter Wärmflasche, um sich besser in diese Zeit zurückversetzen zu können. Heute ist seit dem Unfall schon fast ein halbes Jahr vergangen. Sie hat den Eindruck, sie könnte jetzt ihrem Cousin verzeihen - aber das hat keine Eile, denn es gibt so viel Wichtigeres in ihrem Leben, ihr neue Stelle, ihr größer gewordener Freundeskreis, und...
... sie schreibt: "Vor fünf Wochen hatte ich beim Einschlafen eine Folge von Bildern vor Augen. Ich nahm es wichtig genug, um nicht einzuschlafen. Ich nahm es wichtig genug, das Licht an und mir ein paar Notizen zu machen. Ich nahm es wichtig genug, es am nächsten Tag ausführlicher aufzuschreiben. Vor vier Wochen machte ich eine Zeichnung davon. Vor drei Wochen zeigte ich die Zeichnung zum ersten Mal einem anderen Menschen und sagte, daß es mit mir zu tun hat. Vor zwei Wochen habe ich den Text zusammen mit der Zeichnung auf ein Blatt Papier gedruckt. Vor ein paar Tagen habe ich die Zeichnung über meinem Schreibtisch aufgehängt. Gestern hat jemand, der mich besuchte, einen kurzen Blick über meinen Schreibtisch geworfen. Ob ich in zehn Jahren noch begreifen werde, wie kostbar und überhaupt nicht selbstverständlich jeder dieser Schritte war?"
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