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"Wenn der Diabetes auf die Psyche schlägt", Interview mit Anke-Dorothea Siebert

in: Diabetesmagazin feelfree 1 (2018), S. 18-19 als PDF

Genaue Zahlen dazu, wie viele Diabetiker psychisch belastet sind, gibt es nicht. Fest steht, dass Diabetes depressive Symptome begünstigen kann. Die feelfree sprach mit der angehenden Psychodiabetologin Anke-Dorothea Siebert

Frau Siebert, Diabetes ist ein Stresstest für die Psyche. Dennoch wird die psychische Belastung von Diabetikern häufig unterschätzt. Mit welchen Ängsten und Sorgen kommen Diabetiker zu Ihnen?

Siebert: "Das ist individuell sehr unterschiedlich. Es kommen Menschen mit Zukunftsängsten, oft im Zusammenhang mit Sorgen vor möglichen Folgeerkrankungen sowie der Angst vor starken Unterzuckerungen in meine Praxis. Neben den Unsicherheiten, die mit dem Diabetes zusammenhängen, können natürlich auch andere hinzukommen, wie ein drohender Arbeitsplatzverlust oder partnerschaftliche Probleme."

Kommen die Menschen von sich aus zu Ihnen oder eher über den behandelnden Diabetologen?

Siebert: "Es sind sowohl Menschen, die von den diabetologischen Praxen kommen, als auch solche, die aus eigenem Antrieb den Weg zu mir finden."

Gibt es Diabetiker, die sehr skeptisch sind und nur kommen, weil Angehörige oder der Diabetologe dazu raten?

Siebert: "Eine gewisse Portion Skepsis finde ich grundsätzlich richtig und gut. Man weiß ja nicht, was einen erwartet. Wenn jedoch tatsächlich keine Eigenmotivation dahinter steht und der Patient sich auch nach den ersten Gesprächen keine Therapie vorstellen kann, sollte man es lassen. Eigenmotivation ist für den Erfolg der Psychotherapie essenziell."

Das heißt, es gibt erst einmal Gespräche zum Kennenlernen?

Siebert: "Es gibt vier Erstbehandlungssitzungen. Der Patient sollte sich beim Therapeuten gut aufgehoben fühlen und der Therapeut sollte Zugang finden. Wenn sich Patient und Therapeut nach diesen vier Sitzungen einig sind, wird der Antrag auf Psychotherapie gestellt. Darin werden auch Ziele formuliert und es wird festlegt, mit welchen Methoden diese erreicht werden sollen."

Wie häufig finden Sitzungen statt?

Siebert: "In der Regel gibt es einmal wöchentlich einen festen Termin. In schwierigen Phasen ist mitunter auch eine engmaschige Therapie zweimal wöchentlich möglich und gegen Ende der Therapie können manchmal auch 14-tägige Sitzungen vereinbart werden."

Ist es eher so, dass es sich um Belastungen handelt, die bereits vor der Diagnose bestanden und die durch den Diabetes besonders schwer ins Gewicht fallen? Oder ist Diabetes auch ein Auslöser?

Siebert: "Beides ist möglich. Oft ist es so, dass eine Belastung vorhanden ist, Betroffene aber durchaus noch ausreichend Coping-Strategien (s. u.) haben, um damit umgehen zu können. Mitunter kann durch den Diabetes das Fass sozusagen zum Überlaufen gebracht werden. So etwa durch eine schwierige, langwierige Diagnosestellung. Es kann auch sein, dass der Diabetes selbst das Leben so stark beeinträchtigt, dass therapeutische Unterstützung notwendig wird."

Es gibt Diabetiker, die scheinbar mühelos mit ihrem Diabetes zurechtkommen. Hat das auch etwas mit Resilienz (s. u.) zu tun?

Siebert: "Grundsätzlich ist es sicherlich typbedingt und je resilienter ein Mensch ist, desto besser kann er mit der Diagnose einer chronischen Erkrankung umgehen. Lösungsorientierte Menschen, die optimistisch in die Zukunft blicken, haben bessere Voraussetzungen, sich auf den Diabetes einzustellen. Es gibt jedoch zahlreiche individuelle Unterschiede in Bezug auf den Diabetes. Ein sehr resilienter Mensch, der immer wieder extreme Blutzuckerschwankungen hat, wird möglicherweise mehr mit dem Diabetes zu kämpfen haben als jemand, der weniger Resilienz mitbringt, aber sehr gut eingestellt ist.“

Kann man Resilienz lernen?

Siebert: "Man kann an seiner Resilienz arbeiten. Viele Faktoren spielen eine Rolle, auch persönliche Stärken. Das können kreative oder soziale Kompetenzen sein oder bestimmte Begabungen. Mithilfe einer Psychotherapie lässt sich viel für einen besseren Umgang mit dem Diabetes erreichen, um Depressionen oder depressive Verstimmung in den Griff zu bekommen."

Manchmal haben Patienten bereits lange Diabetes und werden dann plötzlich depressiv. Scheinbar ohne Ursache?

Siebert: "Das lässt sich ganz losgelöst vom Diabetes erklären. Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Leben eine depressive Verstimmung zu bekommen, liegt der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge bei ca. 10 Prozent. Davor ist man auch als Diabetiker nicht gefeit. Es handelt sich nicht immer um behandlungsbedürftige Depressionen. Wenn jemand an sich gut eingestellt ist, wird der Diabetes sicher nicht die einzige Erklärung für eine Depression sein. Aber er kommt eben noch mit hinzu."

Welche Rolle spielt Sport?

Siebert: "Sport spielt eine große Rolle, weil sich Symptome der Depression damit gut bekämpfen lassen und weil Bewegung für den Diabetes von Bedeutung ist. Aber man muss vorsichtig sein. Einem Menschen mit einer schweren Depression kann man nicht einfach so sagen: 'Machen Sie mal Sport.' Vielleicht geht es zunächst einfach darum, dass der Betroffene überhaupt das Haus wieder verlässt.
Wichtig ist auch, eine Sportart zu finden, die Freude bereitet. Lässt sich das angestrebte Sportprogramm nicht umsetzen, ist das frustrierend und kontraproduktiv. Die gesetzten Ziele sollten realistisch sein und können in einer Psychotherapie zusammen erarbeitet werden."

Geht das manchmal nur mit Psychopharmaka?

Siebert: "Ja, das kommt vor und ist unabhängig vom Diabetes. Wenn eine Depression schwer ist, kann es zu Beginn der Therapie sinnvoll sein, begleitend medikamentös zu unterstützen. Tatsächlich ist das manchmal die schnellere Hilfe und mitunter notwendig, damit Betroffene es überhaupt schaffen, einmal wöchentlich zum Gespräch zu kommen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Bei den allermeisten Psychotherapien ist aber keine medikamentöse Parallelbehandlung notwendig."

Frau Siebert, vielen Dank für das Gespräch.

Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie mithilfe vorhandener und erworbener Ressourcen bzw. persönlicher Stärken zu nutzen.

Coping (englisch to cope with, "bewältigen, überwinden") bezeichnet die Art des Umgangs mit einem als bedeutsam und schwierig empfundenen Lebensereignis oder einer Lebensphase.