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Anke Seifert

Folgen sexuellen Missbrauchs (2001)

Was passiert mit einem Kind, welches sexuell missbraucht wird? Wie sehen die Folgen aus und wie kann man sie erkennen? Oft besteht Unsicherheit, wie reagiert werden soll. Manchmal werden Reaktionen des Kindes auch falsch verstanden. Oder typische Reaktionen werden - auch von engen Bezugspersonen - gar nicht als Warnsignale erkannt. Es gilt also, einen Überblick über unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Kinder und den daraus resultierenden Folgen zu bekommen, um frühzeitig einschreiten und auch präventiv arbeiten zu können. Je mehr die Bevölkerung für die Gewaltproblematik sensibilisiert wird, desto facettenreicher ergibt sich das Bild der Missbrauchshandlungen und desto schneller kann eingeschritten werden. Aufgrund der unterschiedlichen Missbrauchssituationen und Folgen, des unterschiedlichen Entwicklungsstandes und Entwicklungsumfeldes des Kindes wird es unmöglich, eine Art Patentrezept für Interventionen aufzuzeigen. Es muss individuelle Hilfe angeboten werden. Eine Sensibilisierung soll dazu führen, frühzeitig Missbrauchshandlungen zu erkennen, um die Kinder zu schützen und die belastenden Folgen so früh wie möglich zu behandeln.

Durch die Kenntnis der möglichen Folgen sexuellen Missbrauchs, der unterschiedlichen Gewaltformen und differenzierten Gewaltdimensionen kann einer solchen Sensibilisierung näher gekommen werden. Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Formen der Gewalthandlungen sind oftmals fließend. Das Begriffsverständnis im engeren Sinne umfasst in der Regel nur die Fälle, in denen Kinder körperlich verletzt werden. Bei sexuellem Missbrauch besteht die Schwierigkeit, direkte körperliche Schäden zu identifizieren. Der sexuelle Missbrauch vollzieht sich eher geheim und nicht offensichtlich. Nur in einigen Fällen kommt es zu organischen Verletzungen, die in direkter Folge zu dem Missbrauch auftreten. Der in weiterem Sinne definierte Misshandlungsbegriff demgegenüber schließt dann auch solche Handlungen mit ein, die nicht unbedingt zu körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen von Kindern führen. Unter diese Handlungen fallen z.B. häufiges Schimpfen, Schlagen oder Bestrafen mit Liebesentzug. Dieses Begriffsverständnis ist gerade bei präventiver Arbeit wichtig, weiterhin um Misshandlungen bei Kleinkindern frühzeitig zu erkennen und dort intervenieren zu können.

Formen der Gewalt gegen Kinder

Es wird zwischen struktureller und personeller Gewalt unterschieden. Unter struktureller Gewalt versteht man Gewalt, die aus sozialen Begebenheiten resultiert, wie beispielsweise unzureichende Wohnverhältnisse. Diese können zwar direkte Auswirkungen haben, müssen jedoch nicht unbedingt von einer einzelnen Person ausgehen. Die personelle Gewalt beinhaltet das Handeln und das Unterlassen eines Erwachsenen gegenüber einem Kind. Man differenziert die Unterlassung in die Unterlassung von Hilfeleistungen und die Unterlassung von Versorgung.

Es werden vier Formen der personellen Gewalthandlungen unterschieden: [vgl. Engfer, 1997, S.22]

Vernachlässigung findet dann statt, wenn Kinder durch ihre Betreuungspersonen nicht ausreichend ernährt, gesundheitlich versorgt und/oder nicht dem Alter entsprechend beaufsichtigt werden. Unter diese Form der Gewaltanwendungen wird zudem eine mangelnde, nicht altersentsprechende Förderung des Kindes gezählt. Eine Gewaltanwendung in Form der Vernachlässigung ist nicht immer eindeutig zu erkennen, da Elterntätigkeiten von gesellschaftlichen Normen abhängen und auch kulturelle Unterschiede in den Erziehungszielen beachten werden müssen. Die Vernachlässigung ist jedoch immer eine Handlung der Unterlassung, die weitreichende Folgen für das Kind haben kann. Um eine Vernachlässigung handelt es sich auch dann, wenn Hilfeleistungen ausbleiben. Zum Beispiel, wenn ein Kind versucht, Gewalterfahrungen durch den Vater der Mutter mitzuteilen und es bei ihr auf Unverständnis und Unglauben stößt.

Psychische Misshandlung wird getrennt von der Vernachlässigung gesehen, da es sich um Formen von Handlungen handelt, die Kinder ängstigen können und ihnen ein Gefühl der eigenen Wertlosigkeit geben. Psychische Misshandlung kann ein Kind in seiner psychischen und körperlichen Entwicklungsmöglichkeit hemmen. Die Grenze der psychischen Misshandlung ist nicht immer eindeutig. Sie besteht aus mehr oder weniger anerkannten bzw. stillschweigend geduldeten Erziehungspraktiken, wie Bestrafungen mit Hausarrest und Liebesentzug. Die psychische Misshandlung stellt eine subtile Form der Gewalt gegen Kinder dar, obwohl die Folgen von denen anderer Gewaltanwendungen meist nicht zu unterscheiden sind. Die psychische Misshandlung kann den Charakter einer Unterlassung und einer Handlung haben.

Die körperliche Misshandlung stellt eine körperliche Verletzung dar, die dem Kind durch die Betreuungsperson oder Fremde beigebracht wird. Hierzu zählen u.a. Schläge und absichtlich zugefügte Verbrennungen. Die Intensität der Misshandlung und auch die jeweilige Empfindlichkeit des kindlichen Organismus spielen für die Auswirkungen eine große Rolle. Für die seelischen Folgen, die das Kind erfahren muss, besteht ein Unterschied in der Heftigkeit der Schläge und auch bezüglich des Grundes. Geschieht eine Gewalthandlung im Affekt, so wird auch die anschließende Reaktion zwischen Erwachsenem und Kind anders empfunden als man eine (anhaltende) körperliche Misshandlung empfinden kann.

Diese Art von Gewaltanwendung gegenüber einem Kind ist das Thema dieses Artikels. Sexueller Missbrauch ist eine gewalttätige Handlung, die vom Kind unerwünscht ist und vom handelnden (Erwachsenen) erzwungen wird. Dabei benutzen (zumeist männliche) Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen Befriedigung. Dies geht oft einher mit körperlichen und psychischen Gewaltanwendungen und seelischem Druck.

Der polizeilichen Kriminalstatistik zufolge wird von 15.279 Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Jahr 1999 in Deutschland ausgegangen. [www.bundeskriminalamt.de/pks/pks1999. Stand vom 26. August 2001] Darüber hinaus existiert leider zusätzlich eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter Fälle, weswegen diese Zahl unverhältnismäßig wenig über den Umfang der tatsächlich stattgefundenen Gewalthandlungen aussagt. Die Dunkelziffer wird auf mehr als das zehnfache der polizeilich registrierten Fälle geschätzt. Stand vom 26. August 2001] Missbrauchshandlungen, die innerhalb der Familie stattfinden, werden selten angezeigt.

Wird ein Kind durch ein Familienmitglied sexuell missbraucht, so sind die Gefühle der Opfer oft ambivalent. Es sucht Schutz vor den Taten und will gleichzeitig den Zusammenhalt der Familie nicht zerstören. Auf dem Kind lastet eine große Bürde, doch will es die Beziehung zum Täter / zur Täterin und auch die Familie nicht zerstören. Viele Opfer sind zu Beginn der Tatzeit zwischen sechs und zehn Jahren alt, einige der Betroffenen sind bereits zu Tatbeginn zwischen zwei und fünf Jahren alt. [vgl. Informationsbroschüre der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, 1992] Dies zeigt, dass die Opfer zum Zeitpunkt der Tat noch nicht die ausreichende Lebenserfahrung haben, mit den Folgen umzugehen. Bei sexuellem Missbrauch in der Familie versuchen viele betroffene Kinder ihre Erfahrungen als "Nichtigkeit" abzutun. Dennoch können sie ihrer ambivalenten Gefühle nicht "Herr" werden, solange sie keine Person des Vertrauens haben und sich durch ein Gespräch entlastet fühlen können. Das Kind glaubt, die Verantwortung des Missbrauchs wird ihm zugeschrieben, wodurch ein schweres Gewicht auf ihm lastet.

Jungen wird oftmals eine stillschweigende Erwartung entgegengebracht, keine Opfer zu sein. 'Jungs sind hart.' Eine solche Rollenerwartung ist zusätzlich belastend. Jungen sind meist jünger zur Tatzeit als Mädchen und die Tat geht häufiger mit Gewaltanwendungen einher, sodass sie vermehrt Verletzungen im Analbereich aufweisen. Jungen, die bereits über ein breiteres Wissen über Sexualität verfügen, haben zudem vermehrt eine große Angst vor aus dem Missbrauch resultierender Homosexualität. Sie denken häufig, aufgrund des Geschlechtsverkehrs mit einem Mann könne man homosexuell werden. Daraus resultiert für die männlichen Opfer eine zusätzliche Angst, sich jemandem mitzuteilen.

Kriterien zur Beurteilung von sexuellem Missbrauch

Sexueller Missbrauch wird beurteilt nach der Absicht, die hinter der Handlung steht, wer den Nutzen aus ihr zieht und von wem die Handlung ausgeht. Weiterhin ist das Alter und der Widerwille des Kindes zu berücksichtigen. Wichtig ist es, ob das Kind bereits in der Lage dazu ist, 'Nein' zu sagen und ob dies auch respektiert wird. Zusätzlich zu diesen Fragen müssen die Gefühle des Kindes, die gegenüber bestimmten Handlungen und möglichen Folgeerscheinungen auftreten, berücksichtigt werden. [vgl. May, 1997] Die Kenntnis hierüber kann der Vorbeugung eventueller Verschleierungen und Verdeckungsmanövern dienen.

Von besonderem Interesse im Hinblick auf die Folgen sind die unterschiedlichen Dimensionen des sexuellen Missbrauchs:

Auch der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer kann einen Hinweis auf sexuelle Übergriffe geben, doch darf man dabei sexuelle Übergriffe durch Jugendliche nicht außer Acht lassen. Der sexuelle Missbrauch beinhaltet nicht nur eine tätliche Handlung. Vielmehr spielen der Vertrauensbruch, die Integritätsverletzung und die emotionale Abhängigkeit zwischen Opfer und Täter meist eine große Rolle. Sexueller Missbrauch vollzieht sich oftmals geheim, so wird das Kind zur Geheimhaltung gezwungen und der Grund der Tat wird dem Opfer nicht deutlich. Innerhalb der Familie besteht selten die Möglichkeit für ein Kind, sich jemandem mit seinen Sorgen, Ängsten und körperlichen wie psychischen Bedrohungsgefühlen anzuvertrauen. Häufig fehlt das Vertrauen oder die angesprochene Person will es nicht wahrhaben. Viele Missbrauchshandlungen geschehen unter dem Deckmantel der 'heilen Familie'.

Folgen durch Gewaltanwendungen

Seelisch, körperlich oder sexuell misshandelte Kinder tragen außerordentlich vielfältige, unspezifische und unterschiedliche Symptome. Auswirkungen von Gewalthandlungen können sich auf der Gefühls-, Verhaltens- und Körperebene ergeben. Dabei spielen die Art der Gewalt und ihre Dimensionen eine Rolle, die Tatsache, ob das Opfer ein Junge oder ein Mädchen ist und Verletzungen, die in einem direkten Zusammenhang zum Missbrauch stehen. In einigen Fällen sind diese drei Faktoren nicht klar zu trennen, da sie miteinander in Verbindung stehen können.

Die Folgen von sexuellen Missbrauchshandlungen sind um so größer und die Erinnerungen für das Opfer um so belastender, je größer der Altersunterschied und die verwandtschaftliche Nähe zwischen dem Täter und Opfer ist, je länger die sexualisierte Gewalt andauert, je jünger das Kind bei Beginn der Tat ist, je mehr Gewalt angedroht und angewendet wird, je vollständiger die Geheimhaltung und der damit einhergehende Druck auf das Kind ausgeübt wird und weiterhin je weniger beschützende und vertrauensvolle Personen dem Kind als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. [vgl. Informationsbroschüre der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, 1992, zitiert nach www.praevention.org/fachinformationen. Stand vom 26. August 2001]

Auf der Gefühlsebene können in Folge von sexuellem Missbrauch starkes Empfinden der Scham, der Schuld und der Wertlosigkeit entstehen. Die Integrität des Opfers wird zerstört. Das Opfer lehnt zumeist seinen eigenen Körper ab, da sein Selbstbild gestört ist. Betroffene Kinder können nur schwer Vertrauen in sich und andere erlangen; das Opfer empfindet sich darüber hinaus häufig als beziehungsunfähig. Eine Folge von Missbrauchserfahrung kann die Angst sein, Beziehungen einzugehen, bzw. die Angst, das dazu benötigte Vertrauen nicht aufbringen zu können. Auch das spätere eigene Sexualleben des Opfers kann durch die Folgen des Missbrauchs gestört werden. Aufgrund dessen, dass Zwang und Gewalt mit Missbrauch einhergehen, überblickt das Kind nicht die Bedeutung des eigenen Sexuallebens und erfährt Widerwillen gegenüber seinem späteren Partner. Die intime Nähe zum Partner kann dazu führen, dass Erinnerungen aufkommen, dass die Kontrolle nicht gewahrt werden und nicht selbst entschieden werden kann. Das spätere Sexualleben kann durch diese traumatischen Erfahrungen also nicht natürlich, gewünscht und positiv erfahren werden.

Zu Auswirkungen sexuellen Missbrauchs auf der Verhaltensebene werden selbstdestruktives Verhalten, Bettnässen, chronisches Weglaufen, wiederholte Suizidversuche gezählt. Jungen werden aufgrund von Missbrauchshandlungen oft aggressiv. Sie wollen damit ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, aber auch die Kontrolle behalten, die ihnen so einschneidend genommen wurde. Jungen kompensieren dadurch ihre Angst vor Homosexualität.

Die Folgen auf der Körperebene sind dadurch gekennzeichnet, dass der Körper auf die Psyche reagiert und dies meist unbewusst erfolgt. Anhaltende und ätiologisch unklare Körperbeschwerden sind im Kontext von Anamnese und Verhaltensauffälligkeiten ein möglicher Hinweis für sexuelle Missbrauchssituation. [vgl. Bürgin, Rost, 1997, S.139]

Im Folgenden soll auf verschiedene Symptome sexuellen Missbrauchs auf der Körperebene eingegangen werden. Dabei ist zu beachten, dass weder alle genannten Symptome unbedingt zur Ausprägung kommen müssen, noch dass man von dem Vorhandensein dieser Symptome zwingend auf einen sexuellen Missbrauch schließen kann, da auch andere traumatische Ereignisse (z.B. Verkehrsunfälle, Todesfälle) zu den beschriebenen Störungen führen können.

  1. Dissoziative Störungen [vgl. Eckhardt, Hoffmann, 1997]

Charakteristisch für Dissoziative Störungen sind der teilweise oder völlige Verlust der Fähigkeit, belastende Erinnerungen angemessen in den eigenen Erfahrungsschatz zu integrieren, der teilweise stattfindende Verlust des Identitätsbewusstseins und der Kontrollverlust über eigene Körperbewegungen. Diese Störung hat meist eine psychogene Ursache und es besteht eine nahe zeitliche Verbindung zu traumatischen Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen. Ein dissoziativer Patient jedoch hat gleichzeitig die Kontrolle darüber, welche Erinnerungen und Empfindungen zugelassen und welche Bewegungen ausgeübt werden.

Chronische Zustände einer Dissoziativen Störung können zu Lähmungen und Gefühlsstörungen führen, normalerweise allerdings sind die dissoziativen Zustände schnell rückläufig. Psychosoziale Schwierigkeiten und Probleme werden von den dissoziativen PatientInnen oftmals geleugnet.

Bei den dissoziativen Störungen der Bewegung als Folgeerscheinungen kommt es zu einem Verlust oder einer Veränderung von Bewegungsfunktionen, bzw. eines oder mehrerer Körperglieder. Unterschiedliche Formen mangelnder Koordination können in den Beinen auftreten, bis hin zur Unfähigkeit des freien Ganges führen. Es kann auch ein übertriebenes Zittern auftreten. Dissoziative Störungen können mit Psychosomatischen Störungen einhergehen.

Krampfanfälle sind eine weitere Form dissoziativer Körperbewegungsstörungen. Diese "Pseudoanfälle" können epileptischen Anfällen sehr ähnlich sein. Hierbei sind mögliche Verletzungen im Rahmen eines epileptischen Anfalls eher selten. Die krampfartigen Anfälle ähneln oftmals einer Darstellung inzestuöser Kontakte.

B. Psychosomatische Störungen

Um Krankheiten der Psychosomatik zuschreiben zu können, müssen tatsächliche organisch bedingte Krankheiten ausgeschlossen werden.

Als Folge sexualisierter Gewalttaten können psychosomatische Symptome wie Zuckungen in Extremitäten, Geh- und Sehstörungen und Störungen des Bewusstseins auftreten. Diese Symptome sind körperliche Ausdrucksmittel seelisch bedingter Konfliktsituationen. Es sind individuelle Ausdrucksmittel und die Ursache ist meist schwer zu erkennen.

In vielen Fällen sind Schlafstörungen Symptome einer psychischen oder körperlichen Problematik. So resultiert sie beispielsweise auch durch vermehrt auftretende Alpträume, bzw. Alpträume und Schlafstörungen können sich einander bedingen. Bei den sogenannten Angstträumen ist das Traumerleben sehr lebhaft und realitätsnah. Als Themen werden in der Literatur zum Beispiel "Bedrohungen des Lebens, der Sicherheit oder der Selbstachtung" [ICD-10, 1993, S.213 (F 51.5)] genannt. Solche Träume können ein misshandeltes Kind bis in den Tag hinein verfolgen.

Haut- und Magenerkrankungen können als Folge von oben genannter psychosozialer Belastung auftreten. Auch können Sexualstörungen wie sexuelle Dysfunktion und Vaginismus (ein Krampf der die Vagina umgebenen Beckenbodenmuskulatur) einen Hinweis auf die Erfahrung sexualisierter Gewalt darstellen.

Seelisch bedingten Kopf- und Rückenschmerz, chronischen Unterleibsschmerz, Schmerzen in den Armen und Beinen und auch am Herzen rechnet man zu somatischen Schmerzzuständen. Schmerzen im Unterleib stellen eine Schmerzwahl dar, die dem Bereich der Missbrauchserfahrung sehr nahe kommt. Unerträgliche Gefühle und Konflikte werden in einer solchen Form unbewusst durch Schmerz ausgedrückt. Für Kleinkinder ist dies zusätzlich die unbewusste Art, Zuneigung zu erlangen. Solange ein misshandeltes Kind Schmerzen hat, die offensichtlich sind, "ist man nicht alleine und wird gepflegt".

Charakteristisch für Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen oder anderen psychosomatischen Erkrankungen ist oft die Überzeugung von körperlichen Ursachen ihrer Krankheit. Mögliche belastende Erfahrungen werden von den Patienten als Ursache verdrängt und oft auch von Ärzten vernachlässigt.

  1. Essstörungen [aufschlussreich bezüglich des Zusammenhangs zwischen Essstörungen und Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs sind u.a. die Studien von Root, M., Fallo, P., Friedrich, W. (1986) und Oppenheimer, R., Howells, R., Palmer, R.L., Chalonner, D.A. (1985). Vgl. hierzu auch Willenberg, 1997, S. 280]

Essstörungen wie Bulimie und Anorexia Nervosa sind häufige Folgeerscheinungen beim Erleben von Gewalttaten. Es wird bei diesen Symptomen besonders deutlich, dass das misshandelte Kind den eigenen Körper ablehnt. Gefühle der Scham, Schuld und ein Strafbedürfnis gegenüber dem eigenen Selbst manifestieren sich über die Essstörung. Anorektiker und Bulimie-Patienten haben das Gefühl, ungeliebt und unerwünscht zu sein und sich gleichzeitig keiner Bezugsperson mitteilen zu können. Sie können in keiner Weise ihren Körper akzeptieren. Dies kann u.a. auch aus einer sexuellen Misshandlung resultieren.

Die Bulimie zeichnet sich durch ein periodisches Aufnehmen großer Mengen von Nahrungsmitteln und das anschließende, selbst herbeigeführte Erbrechen oder Abführen derselben aus. Bulimie-Patienten sind nicht unbedingt untergewichtig, haben jedoch ein gestörtes Körperempfinden. Eine krankhafte Angst, dick zu werden, ist auch im Falle einer normalgewichtigten Ausgangssituation Bestandteil dieser Krankheit. Nach einem Anfall empfinden sie Ekel, Hilflosigkeit, Panik und Schuldgefühle. Die anschließende Entleerung durch Erbrechen oder Abführmittel wirkt erleichternd. Diese Krankheit wird von den Opfern aus Scham geheimgehalten. Viele Bulimie-Patienten sind suizidgefährdet. Bulimie wird selten bei Männern diagnostiziert. Folgen der Krankheit können ernsthafte gesundheitliche Schädigungen des Darms und der Speiseröhre sein. Auch weiterführende Langzeitfolgen können darüber hinaus auftreten.

Anorexie bezeichnet einen schweren Appetitverlust (u.a. vom Opfer absichtlich herbeigeführte Essensverweigerung) und Nervosa bedeutet, dass die Gründe dafür emotionaler Natur sind. Auch bei Anorektikern besteht eine enorme Angst vor dem Essen und der damit verbundenen Gewichtszunahme. Ein allgemein berichtetes Phänomen der Anorexia ist ein gestörtes Körperbild und wird ebenfalls vornehmlich bei Frauen diagnostiziert. Folgen dieser Krankheit sind Abmagerung, Menstruationsstörungen, Haarausfall, Unterentwicklung der Organe, Leberschäden bis hin zum Tode durch Verhungern. Der drastische Gewichtsverlust durch Anorexia hebt die Annahme, dass die sichtbar werdende sexuelle Entwicklung aufgehalten werden soll. [vgl. Willenberg, 1997, S.277]

Das kindliche Körperbild und die Folgen für dieses

Jeder Mensch besitzt ein dreidimensionales Bild seines Selbst, bestehend aus der Optik, der Bewegung und dem Gefühl. Diese Ebenen geben das Bild des Ganzen ab. Aus psychoanalytischer Sicht ist das Körperbild nicht einheitlich, sondern nur subjektiv rekonstruierbar. [vgl. Joraschky, 1997, S.124] Das eigene Bild entsteht früh aufgrund von Interaktionsmustern, durch die Identifikation mit dem Körper des anderen und den Erfahrungen von Formen körperlicher Begegnung. Ein gesundes Körperbild kann genau dann nicht entstehen, wenn Interaktionsmuster nicht erfahren oder in anderer, falscher Weise erfahren werden. Wenn ein Kind Formen körperlicher Begegnungen erfährt, die nicht dem Alter entsprechen, die es nicht versteht und derer es sich nicht wehren kann, entsteht ein gestörtes Körperbild. Ein Kind, welches sexuelle Gewalt erfährt, erfährt diese gegen seinen Willen. Zudem kommen Demütigungen auf, Scham- und Wertlosigkeitsgefühle. Typische Phänomene im Selbsterleben von Missbrauchsopfern sind Störungen des Selbstwertgefühls, Gefühle absoluten Unwertes, die mit ständiges Selbstzweifeln einhergehen. Das Kind baut einen schlechten Kontakt zum eigenen Körper auf. In der Umweltwahrnehmung des Kindes wird all die Gewalt aufgrund der Existenz seines eigenen Körpers ausgeübt. Die in Folge eintretenden Störungen im eigenen Körperempfinden können sich auf die unterschiedlichste Art und Weise ausdrücken. Neben den Körperbildstörungen ergeben sich psychosomatische Krankheitsbilder, Störungen aufgrund der eigenen Nicht-Anerkennung. Die falsche Annahme, sie selbst trügen die Schuld an den Missbrauchshandlungen, bringt Kinder dazu, durch weite Kleidung mögliche sexuelle Reize gegenüber Erwachsenen zu verdecken. Stark belastend wirken Körpergefühle des Hässlichseins und der Verunstaltung. [vgl. Joraschky, 1997, S.117]

Das Körpergefühl sexuell missbrauchter Kinder kann zerstört sein. Zusätzlich auftretende Spannungszustände und Muskelspannungen gelten als unspezifische Reaktionen auf verschiedene Belastungssituationen: "Über eine Konfliktpathologie kommt es im Rahmen missglückter Konfliktlösungen zu Störungen im affektiven Erleben, z.B. Ängsten, Erschöpfungen und Depressionen. Die gleichzeitig bestehende Ich-Pathologie bewirkt, dass der seelische Anteil dieses Erlebens unterbewertet, in der Wahrnehmung vernachlässigt wird, so dass sich die Aufmerksamkeit auf begleitende körperliche Störungen konzentriert" [vgl. Egle, 1997, S. 202].

Für die Folgen sexueller Übergriffe ist kennzeichnend, dass alle belastenden Spannungen, die der kindliche Körper aushalten muss, über den Körper entladen werden. Das bedeutet, dass versucht wird, Konflikte mit einer körperlichen Erkrankung zu lösen. Bei Kindern zeigt sich dies besonders im Bereich der Motorik. Es treten nicht selten regressive körperliche Reaktionsmuster auf, wie zum Beispiel Daumenlutschen und Bettnässen. Die Spannungsabfuhr erfolgt automatisch. Sie ist an Affekte gebunden, jedoch stark mit dem Körper verknüpft. In Untersuchungen findet man Hinweise auf Hyperaktivität, Apathie und autoerotische oder autoaggressive Aktivitäten. [vgl. Bürgin, Rost, 1997, S. 151]

Es existiert zudem kein gesundes Körpergefühl mehr, da sich grundsätzlich misshandelte Kinder in ihrem Selbsterleben böse, schlecht, dumm und nicht liebenswert fühlen. Sie können Gefühle schlecht erkennen und noch schlechter aussprechen. An sich selbst und ihrem Körper haben sie wenig Freude. Als Bruch im Selbst wird von den Opfern häufig ein Teil des Körpers abgespalten, der Körper wird als Ganzes entwertet und ausgegrenzt [vgl. Joraschky, 1997, S.120]. Der Körper ist nicht mehr ein Teil des Ichs, sondern wird abgespalten - dissoziiert -und ängstlich beobachtet.

Fazit und Ausblick

Die hier aufgezählten Symptome können Indizien für Gewalthandlungen gegen Kinder sein. Bevor jedoch ein Verdacht auf sexuelle Misshandlung ausgesprochen wird, sollte der Hintergrund dieser Symptome genau überprüft werden, da sowohl organische Krankheiten als auch andere traumatische Erfahrungen, wie zum Beispiel durch Todesfälle im nahen Umfeld, Verkehrsunfälle oder Trennung der Eltern dazu führen können.

Aufgrund der unterschiedlichen Gewaltformen und Dimensionen ist und bleibt es schwierig, Kindesmissbrauch zu erkennen. Jedes Kind reagiert individuell auf Missbrauchssituationen. Gerade weil ein "Patentrezept" zum Schutze des Kindes fehlt, ist die Sensibilisierung der Bezugspersonen von größter Notwendigkeit. Das Wissen um die Gewaltformen und die facettenreichen schweren Folgen können unterstützend in der Aufdeckung und Beendigung der Gewalttaten wirken.

Wenn ein Kind sexuellen Missbrauch erfahren musste, so ist es wichtig, dem Kind zur Seite zu stehen und es nicht alleine zu lassen. Es gilt, das Kind aus dem bedrohenden Umfeld herauszuholen und vor erneuten Missbrauchssituationen zu schützen. Nur wenn das Kind sicher ist, kann es eine Verarbeitung der belastenden Erfahrungen beginnen. Die betreuende Person sollte versuchen dem Kind das Vertrauen in sich und andere zurückzugeben, indem er oder sie dem Kind Verlässlichkeit schenkt.

Literatur

Bürgin, D., Rost, B. (1997): Psychische und psychosomatische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, in: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York, S. 133-155

Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (Hrsg.) (1993): Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 Kapitel V (F)), 2. Auflage, Verlag Hans Huber

Eckhardt, A., Hoffmann, S.O. (1997): Dissoziative Störungen, in: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York, S.225-237

Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York

Egle, S.O. (1997): Somatoforme Schmerzstörungen, in: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York, S. 195-213

Engfer, A. (1997): Gewalt gegen Kinder in der Familie, in: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York, S.21-35

Herbert, M. (1999): Posttraumatische Belastung, Bern, Göttingen, Toronto

Hoffmann, S.O., Egle, U.T., Joraschky, P. (1997): Bedeutung von Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend für die Entstehung psychosomatischer Erkrankungen - Versuch einer Bilanz, in: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York, S.417-423

Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch und Vernachlässigung in Familien, in: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York, S. 79-93

May, A. (1997): Nein ist nicht genug: Prävention und Prophylaxe, Ruhnmark: Donna Vita

Root, M., Fallo, P., Friedrich, W. (1986): Bulimia: system approach to treatment, New York, Norton

Senatsverwaltung für Jugend und Familie (1992): Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, Berlin

Oppenheimer, R., Howells, R., Palmer, R.L., Chalonner, D.A. (1985): Adverse sexual experience in childhood and clinical eating disorders: a preliminary description, J. Psychiat Res, S. 357-361

Wetzels, P. (1997): Gewalterfahrungen in der Kindheit, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Willenberg, H. (1997): Essstörungen, in: Egle, U.T., Hoffmann, S.O., Joraschky, P. (1997): Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Stuttgart, New York, S.271-284

www.bmfsfj.de/kinder-und-jugend

www.bundeskriminalamt.de/pks/pks1999.

www.praevention.org/fachinformationen